SPRECHENDE HÄUSER
In Osterwieck sprechen die Häuser. Nicht verbal – aber wenn sie könnten, hätten sie so einiges zu erzählen. An insgesamt 43 Häusern in der Altstadt Osterwiecks kann man Hausinschriften aus der Zeit des Reformators erleben. Sie beschränken sich aber nicht wie üblich auf Angaben zur Erbauung des Hauses, sondern vermitteln ganz klare Botschaften.
Fachwerk spielt in Osterwieck eine große Rolle. Insgesamt 400 Fachwerkhäuser sind geschützte Baudenkmäler aus der Zeit der Spätgotik und Renaissance. Hier sind die sogenannten "Fächerrosetten" zu sehen. An Osterwiecks "Alter Vogtei" sind sie in das Jahr 1533 datiert und dürften damit die nach heutigem Stand der Forschung ältesten, erhalten gebliebenen Fächerrosetten sein.
Doch viel interessanter als der Baustil sind die Hausinschriften. Nachdem dies aus Braunschweig erstmalig 1530 erstmalig überliefert ist, bekannten sich auch die Osterwiecker ab 1533 in lateinischer und deutscher Sprache mit protestantischen Devisen, Bibelzitaten, Psalmen zum protestantischen Glauben – durchaus eine Frechheit gegenüber ihrem Landesherrn, Kardinal Albrecht, der nicht nur Bischof in Halberstadt war, sondern auch Erzbischof von Magdeburg und Erzbischof und Kurfürst in Mainz. Immer wieder findet man "Verbum domini manet in aeternum" – zu Deutsch: "Das Wort des Herrn bleibt in Ewigkeit"– war dies doch die Devise des Schmalkaldischen Bundes der protestantischen Fürsten und Städte. Hier in Osterwieck ist sie 1534 erstmalig an einem Haus an der Schulzenstraße 9 überliefert. Der nackte Knabe mit seinem Haupt über einem Totenkopf symbolisiert die "Vergänglichkeit des Irdischen" gegenüber der "Ewigkeit des Gotteswortes".
"Wer den Herrn fürchtet, der hat eine starke Festung" und "›Allein‹ Gottes Wort ewig besteht" heißt es sogar an der Schützenstraße 2 – das ist "Osterwiecker Reformation" par excellence! Die Verzierungen am Anfang und am Ende der Textzitate werden Zauberknoten genannt – sie symbolisieren die Unendlichkeit.
Hausinschriften sind filigrane Schnitzarbeiten, die entweder positiv oder negativ ins Holz des Fachwerks geschnitzt worden sind. Ursprünglich waren sie nicht farbig hervorgehoben, sondern lebten, durch einen Ölanstrich geschützt, lediglich vom Spiel von Licht und Schatten – wie es auf den Holztafeln an der noch nicht restaurierten „Alten Post“ in der Nicolaistraße 2 gut zu erkennen ist. Wäre hier nicht geschnitzt, sondern nur mit Farbe gearbeitet worden, die fast 500 Jahre alten Inschriften könnte man – längst verblichen – nicht mehr erkennen.
Am Haus Sonnenklee 40 ist zu lesen: "Wirf dein Anliegen auf den Herrn, der wird dich versorgen und wird den Gerechten nicht verlassen oder seinen Samen nach Brot gehen" (Ps. 37,25). – "An Gottes Segen ist alles gelegen" (Luthers Überschrift des Psalms 127). Die vielen Inschriften in deutscher Sprache wären ohne die Übersetzung der Bibel durch Martin Luther nicht möglich gewesen.
"Das Hohe Haus" in der Nicolaistraße 30 überragt mit drei Stockwerken die Nachbarhäuser. Auf ihm steht der Bibelspruch "Die furcht des Herrn macht das hertz fröhlich und gibt freude und wonne ewiglich Sy." (Jesus Sirach 1.12) und das landläufige Sprichwort "Thue nichts ohn radt, so gerewt dirs nicht nach der thatt".
Kontakt
www.hausinschriften-thiele-wolfenbuettel.de
Bücher
HARZFORSCHUNG 21: Osterwieck – Frühe Mission und frühprotestantische Bilderwelten
ISBN 3-936872-63-5
HARZFORSCHUNG 26: Osterwieck – die Fachwerkstadt aus dem Reformationsjahrhundert
ISBN: 978-3-86732-075-7
Osterwieck – die Stadt des Fachwerks und der Reformation
ISBN 978-3-00-049328-7
Die frühprotestantische Kirche St. Stephan in Osterwieck
ISBN 978-3-00-051687-0
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